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Bilder aus Schatten

Kurze Bemerkungen zu den fotografischen Installationen von Gina Lee Felber

von Klaus Honnef, 1990

Das berühmte Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon aus dem 7. Buch seiner Abhandlung „Politeia“ ist nicht nur im Zusammenhang der Fotografie, sondern schon früher der Kunst so oft beschworen worden, daß man es angesichts der Schattenwelt, die Gina Lee Felber mit ihren „fotografischen Installationen“ entwirft und realisiert, schwerlich ignorieren kann.Die Insassen der Höhle in seinem parabelhaften Dialog sind bekanntlich gefesselt und nicht in der Lage, ihre Köpfe zu wenden, und können nur die Schatten erblicken, die hinter ihrem Rücken vorbeigetragene Gegen­ stände, sichtbar gemacht durch ein ebenfalls dort befindliches Feuer, auf die Wand vor ihnen werfen. Ihre gesamte visuelle Erfahrung beschränkt sich also auf die Wahrnehmung von Nachbildern, von flüchtigen silhouettenartigen Erscheinungen ohne jede materielle Substanz. Schon frühzeitig haben Kulturkritiker der verschiedenen Couleur ihre Argumente gegen die Scheinhaftigkeit der bildenden Kunst aus Platons Höhlengleichnis geschöpft, und in einem Zeitalter, das unter dem ständig noch wachsenden Einfluß der mechanischen und elektronischen Massenmedien Fotografie, Film und Fernsehen augenscheinlich die Bildweit der Nachbilder zu Vorbildern der „wirklichen“ Welt erkoren hat, erhält der philosophische Traktat einen beinahe prophetischen Charakter… Noch nicht zu höherer Einsicht gelangt, hält die Menschheit sich immer noch in Platons Höhle auf und ergötzt sich – nach uralten Gewohnheiten – an bloßen Abbildern der Wahrheit, fällt Susan Sontag in dem Essayband „Über Fotografie“ ihr vernichtendes Urteil.

Andererseits wäre es völlig verfehlt, in den „fotografischen Installationen“ von Gina Lee Felber optische Illustrationen des Gaukelspiels zu erblicken, das sich vor den Augen der Gefangenen in Platons Höhle entfaltet, obwohl die Entsprechungen verblüffend sind und die Bilder, die der Philosoph in der Phantasie seiner Leser erweckt, durch die Bilder der Künstlerin auf beinahe schlagende Weise eingelöst werden.in der Tat haben diese Bilder – wenn überhaupt – mehr mit dem Höhlengleichnis selber und seinen philosophischen Schlußfolgerungen zu tun, als der kulturkritische Honig, den die Gegner von Kunst und Fotografie gewöhnlich daraus saugen.Denn der Betrachter ihrer mit fotografischen Mitteln hergestellt Projektionen ist der bereits befreite Gefangene aus Platons Höhle, der sich die verlassene Schattenweit nur noch im Erinnerungs- oder Vorstellungsbild auszumalen vermag, wobei natürlich nicht zugleich behauptet werden soll, daß er (oder sie) das Licht der Wahrheit tatsächlich erkannt hat. Die Möglichkeit jedenfalls steht jedem (oder jeder) offen, und so bilden die .,fotografischen Installationen“ von Gina Lee Felber gewissermaßen auch den Gegenpol zur perfekt simulierten Weit der Werbung, der illustrierten Zeitschriften, des Films und des Fernsehens, kurzum zu jener „Musealisierung“ (Hermann Lübbe) der Alltagswelt, welche nicht zuletzt die Massenmedien betreiben.

Dabei liefert keineswegs die empirische Realität das Modell für das Universum der Schatten in Gina Lee Felbers „fotografischen Installationen“, sondern eine eigens geschaffene künstliche Wirklich­keit, die ihre Existens ausschließlich der schöpferischen Tätigkeit der Künstlerin verdankt, eine Wirklichkeit rein ästhetischer Provenienz. Aus einfachen Materialien, Draht, Papier, Plastikfolie, Holzstäbchen, aus Fundstücken „bastelt” Gina Lee Felber phantasievolle Objekte in meist pastellhaf­ter Farbigkeit, die sie nach Vollendung aus bestimmten Blickwinkeln und häufig auch ausschnitthaft mit Hilfe der Kamera ablichtet, wodurch sie eine bereits künstliche Realität in eine andere, eine neue, eine fotografische verwandelt. Die Künstlerin verwendet eine handelsübliche Kamera ohne besonde­ren technischen Schnickschnack, hochempfindliche Filme, und beleuchtet die gesamte Szenerie von der Kameraseite mit gebräuchlichen Lampen. Die „fotografische Installationen“ für ihre Bilder erfüllt nicht allein den Zweck, auf den eigentlichen Ursprung der Schattenbilder zu verweisen, sondern sie betont ausdrücklich die eigenständig künstlerisch-ästhetische Qualität dieser Weit, die sich sowohl gegenüber der empirischen Wirklichkeit als auch der Wirklichkeit ihres ästhetischen Widerscheins in den Massenmedien behauptet. Doch die Objekte liefern nur das „Ausgangsmaterial“ für die fotografische Transposition, nur dafür bilden sie den Ursprung. Denn ihnen laufen wiederum Zeichnungen voraus. Und obwohl diese als Skizzen und Studien für die Objekte fungieren, die auch keine Objekte im eigentlichen Sinne sind, vielmehr Modellen für Bühnenbilder ähneln, allerdings ohne Preisgabe ihrer ästhetischen Autonomie, reklamieren und besitzen sie ebenfalls einen ästhetischen Eigenwert, kraft dessen sich eine weitere künstlerische Realität eröffnet.

Wie stark die auf ästhetische Autonomie zielenden Kräfte in den einzelnen Disziplinen des künstleri­schen Werkes von Gina Lee Felber sind, beleuchtet nicht zuletzt der Umstand, daß sich die Objekte, die zunächst lediglich als Modelle für die „fotografischen Installationen“ dienten, längst zu eigenständigen, ungemein phantasievollen und eindrucksvollen ästhetischen Gebilden entwickelt haben. Insofern ist es auch notwendig, von ihrer Existenz zu wissen, um sich angemessen den fotografischen Arbeiten zu nähern. Im Rahmen des künstlerischen Werkes haben diese einen ebenso unabhängigen Status wie die Zeichnungen, die Gemälde und die Objekt-Inszenierungen. Gina Lee Felber ist eine Künstlerin, für die das Medium Fotografie spezifische ästhetische Möglichkeiten erschlossen hat, die sich in den übrigen künstlerischen Disziplinen nicht erproben lassen. Ja, das technische Gesetz der Fotografie, wonach unweigerlich aus jedem fotografischen Gegenstand, welchen Grades von Wirk­lichkeit auch immer, ein Netzwerk aus Licht und Schatten wird, im Negativ sogar die Licht- in Schattenpunkte umschlagen, erhebt sie zum entscheidenden produktiven ästhetischen Faktor. Die strukturellen Momente der Fotografie bestimmen die bildnerische Aussage ihrer ..fotografischen Installationen“. Im Kern sind diese nicht anders als genuin fotografische Bilder, die zunächst einmal auf sich selber verweisen. Sie reflektieren eine fotografische Wirklichkeit par excellence, bevor sie Raum geben für eine Fülle von Assoziationen. So verhält sich die Künstlerin mediengerechter als die Fotografen, die ihr Medium zur Abstraktion zwingen.

Es fällt nicht leicht, die fotografischen Arbeiten von Gina Lee Felber zu beschreiben, und eine Beschreibung würde sie auch über Gebühr literarisieren. Sie wirken vielmehr als Bilder, mobilisieren Gefühle, instrumentieren Stimmungen, provozieren Ängste, appellieren an die Imagination ihrer Betrachter. Vor partiell hell erleuchteten Hintergründen verästelt sich ein Geflecht schattenhafter Formen unterschiedlicher Dichte, die sich mitunter in die Sphäre benennbarer Motive vorzutasten scheinen. Es ist aber die Phantasie der jeweiligen Betrachter, die solches identifiziert. Abgeschlos­sene kellerartige Räume in chaotischem Zustand, dessen ästhetische Ordnung sich jedoch nach und nach offenbart, tun sich vor den Augen der Beschauer auf. Man verliert sich in ihnen, da die Bildgröße der fotografischen Installationen das gewohnte fotografische Format überschreitet. Bilder nach einer Katastrophe, umgekehrt aber auch Bilder, die aus unerforschlichen Urzeiten stammen könnten: ehe alles geworden ist. Ihr hervorstechendes Merkmal ist eine unverkennbare Ambivalenz: Dinge, die man im Schattenriß wiederzuerkennen glaubt, haben Konsistenz und Prägnanz eingebüßt. Das Schattenbild eines Hammers (wobei das Vorbild kein Hammer ist) besitzt weiche Konturen. Wer genauer hinschaut, erkennt alsbald, daß sich die Schattenformen eindeutiger Begrifflichkeit entzie­hen. Deshalb versteht die Künstlerin auch die Titel ihrer Bildwerke, die im übrigen post festum geprägt werden, nicht als Anleitung für die Betrachter, als „Gehhilfe“, wie sie plastisch formuliert. Anderer­seits verleihen die Titel ihren „fotografischen Installationen“ noch eine zusätzliche poetische Dimension.

Vielleicht zitieren uns die Schattenbilder von Gina Lee Felber in Platons Höhle zurück, und vielleicht verkünden sie aber auch entgegen den Forderungen des Philosophen die tröstliche Botschaft, daß es die Wahrheit nicht gibt und ein schöpferischer Mensch, ein Künstler, eine Künstlerin, in der Lage ist, im Chaos der Weit eine – zumindest – ästhetische Ordnung mit Erkenntnisanspruch zu schaffen.

1 Susan Sontag, On Photography, New York 1977, p. 3
2 Cf. Gabriele Honnef-Harling, Catalogue Gina Lee Felber, Wittlich 1990

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