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Erinnerte Materialien

Hans-Michael Herzog, 1996

Rätselhafte, verschlüsselte Bilder führt Gina Lee Felber in ihren Fotografien dem Betrachter vor Augen. Phantomähnliche Gebilde tauchen auf, schweben körperlos im undefinierbaren Raum und bilden sich schattenhaft ab. Verästelte, ineinander verwobene Gegenstände leuchten transparent oder schimmern opak, bilden ein inhaltlich nicht entwirrbares Netzwerk. Miniaturhafte, technoide Formen treten auf, die der geheimnisvoll anmutenden Bildwelt vorn Innenleben des Menschen entnommen sein könnten. Doch sind diese faszinierenden, mikrokosmisch wirken­ den Szenarien nicht mittels endoskopischer oder ähnlicher Hilfsmittel hergestellt worden: die Künstlerin baut sich aus unterschiedlichsten Materialien, deren stoff­liche Beschaffenheit und ästhetische Anmutung ihr Interesse wecken, kleine bühnenartige Schachteln als Arbeitsrnodelle. Innerhalb dieser Boxen, die wie ein nach außen offener Guckkasten aussehen, hantiert und operiert Felber. Sie arran­giert ihre Miniatur-Installationen, indem sie die einzelnen Gegenstände zueinander in Beziehung setzt, miteinander verknüpft und als Ensemble inszeniert. Die Ausstattung dieses bühnenhaften Szenarios erfolgt nicht nach objektiv faßbaren, rationalen Maßgaben, sondern vollzieht sich in einem konzentrierten Akt, in wel­chem die Künstlerin – nicht ohne spielerische Anteile – ihre Bildwelt konstruiert. Feinste Verdrahtungen und ganz subtil ineinander verwobene, vernetzte Gebilde verleihen den fertiggestellten Modellen den Eindruck höchster Fragilität. Diese arbeitstechnischen Installationen wirken so zart und filigran, als ob sie keine ernst­ hafte Erschütterung überstehen würden. Von delikater Konsistenz und latenter Flüchtigkeit sind diese Gebilde, Spinnweben ähnlich, deren kunstvolles Gewirkt­ sein mit einem Handstrich zerstört werden kann.

Mit der Herstellung dieser eigentümlichen Gebilde ist die Grundlage für Felbers nunmehr fotografisches Vorgehen gelegt. Da sie aufgrund ihrer Erfahrung mit den verwendeten Materialien weiß, wie diese sich auf einer Fotografie darstellen, kann sie ihre installativen Inszenierungen unmittelbar auf die Abnahme der einzelnen fotografischen Bilder hin anlegen. Die bislang relativ leblos und »unbeseelt« wir­ kenden Materialien werden nun raffiniert ausgeleuchtet und anschließend fotografiert. Die Fotografie dient der Künstlerin als ein rein technisches Hilfsmittel, um zu denjenigen Bildern zu gelangen, die sie zuvor mental entwickelt hat. Felbers boxen-ähnliche operative Arbeitsmodelle sind lediglich auf den zur Bildherstel­lung führenden fotografischen Akt hin entwickelt und haben nach Herstellung des Bildes ausgedient. Zwar ähnlich strukturiert und einer analogen Gedankenwelt ent­sprungen wie die dreidimensionalen Objekte der Künstlerin, besitzen diese Modelle nicht deren poetische Kraft und ästhetische Stringenz: diese treten erst auf der vollendeten Fotografie in Erscheinung.

Die Darstellungen auf Felbers großformatigen, schwarzweißen Fotografien sind unbestimmt, zeigen bizarre, objekthafte Formen und verschleierte Texturen. Schwebend und fragil, wie hingehaucht und beim nächsten Atemzug vergehend, scheinen die dargestellten Situationen nicht für die Dauer angelegt. Von großer poetischer Dichte und atmosphärischer Ausdruckskraft vermitteln sie die Idee des Ephemeren, Vergänglichen, des Fließens und des Übergangs- als ob ein uns unbekannter, sich selbst genügender Vorgang mitten in seinem Ablauf fotografisch fest­ gehalten würde. Selten heiter, eher skurril oder gar bedrohlich wirken diese Bilder, deren Dimensionen so wenig faßbar werden. Weiche und organisch fließende Formen treten auf und stehen neben brüchigen und morbide wirkenden Stoffen, aber auch Netze, Seile, Gitter, Schnüre und ähnliche uns bekannt wirkende Gegen­ stände lassen sich erkennen.

Felber entwickelt ein fulminantes und höchst delikates Spiel von Licht und Schat­ten, von hermetischer schwarzer Undurchlässigkeit und opaker Transparenz, wobei die fester wirkenden, meist dunklen Gegenstände nicht die gewohnte Plastizität besitzen, sondern schemenhaft im undefinierbaren Raum schweben: die Körperlichkeit alles Dargestellten wird flüchtig und hebt sich auf, während die Immateria­lität Substanz gewinnt. Schatten bezeichnen keine deutlichen Konturen, Trans­parenz und Licht erhellen keine Zusammenhänge – die Materie löst sich auf und das Nichts nimmt Gestalt an: beinahe wähnen wir uns als Beobachter eines ur- oder auch endzeitlichen Geschehens, dessen metamorphotischen Prozessen wir beiwohnen. Akte des Werdens und Vergehens werden uns vorgeführt, durchwebt von der Aura des Zwielichtes und der Uneindeutigkeit. Es ist, als ob Gina Lee Felber erinnerte Materialien präsentiert, die Rohmasse und Elaborat zugleich sind, in ihrer zwangsläufigen Immaterialität aber nicht faßbar oder begreifbar werden können.

Stringent schafft sich die Künstlerin innerhalb ihrer methodisch systematisierten Arbeitsweise ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, die zu formal bündigen, stimmigen Bildern führen. Inhaltlich vertreten ihre Bilder (Fotografien wie auch Zeichnungen) keinerlei Absolutheitsanspruch. Vielmehr weisen ihre Arbeiten (auch die plastischen Objekte) jeden Anspruch auf Eindeutigkeit entschieden zurück. Im un­ definierbaren Raum schwebend sind diese Bilder offen für eine Vielzahl möglicher Vorstellungswelten, die sie beim Betrachter zu evozieren vermögen. Felbers Bilder sind abstrakt im Sinne des Nicht-Gegenständlichen. Sie vereinigen in sich konzeptuelles Denken (in der systematischen Erarbeitung des späteren Bildes) und intui­tiv-spontanes künstlerisches Handeln, ohne je rein rational oder rein subjektiv zu sein. Jeder orthodoxen Ideologie abhold, suchte und fand Felber in der Vielfalt des heute in der bildenden Kunst Möglichen ihren ureigenen Weg. Weder epigonal, noch als antagonistische Gegenbewegung zur unmittelbar vorangegangenen Kunst angelegt, ist ihr Schaffen aktiv, und nicht reaktiv. Ohne Querverweise oder Kontextualisierungen entwickelt sie ihre eigene Bildwelt, in der sie die Zeit respektive die Geschichte aufhebt und innere Bildräume zur Darstellung bringt, in welchen sich Erinnerungen mit Utopien zu magischen Bildern verdichten. Theatralische und ins Romantische tendierende Anteile sowie eine ausgeprägt malerische Kom­ponente werden durch eine bildimmanente Kühle und Objektivität aufgefangen, die jedes Pathos verhindert. Die Künstlerin weiß um die Ambivalenz von Spiel und Ernst, von coolness und Leidenschaft, von Oberflächlichkeit und Tiefe: Sie vertraut sich keinem dieser Begriffe an, darum wissend, daß all diese Begriffe für sich alleine nicht tragen, sondern daß eine mögliche (künstlerische) Wahrheit nur in den Zwischenbereichen zu finden ist.

Auch die Temperazeichnungen der Künstlerin sind Licht-Zeichnungen und stehen damit der Fotografie sehr nah. In vielfältigsten Schattierungen nehmen sie das Thema der Verdichtung und der Auflösung auf. Düstere Schwere tritt in Erscheinung, die dunkle Materie bildet zwar plastische Volumina aus, erfährt aber bereits im Moment ihres Auftretens wieder einen Hang zur Entmaterialisierung. Die Schwerkraft der Materie wird von Gina Lee Felber in ihrer nuancierten malerischen Arbeit zwar nicht gebrochen, aber in einen wogenden, wallenden Aggregat­ zustand versetzt, der auch transparente Anteile besitzt. Die hellen Flächen sind nicht in Weiß gehalten, sondern wie verschmutzt von dunkleren Tönen durchwirkt, so daß sich gleichsam aus dem Nichts eine gewisse Schwere aufbaut, die die ver­ dichtete Materie in einer schwebenden Balance hält. Hell und Dunkel konstituieren sich gegenseitig, nehmen Einfluß aufeinander und setzen sich zueinander in einen spannungsvollen Bezug.

Der Künstlerin ist nicht an eindeutigen, holzschnittartigen Aussagen gelegen. Sie liefert keine Interpretationshilfe, da sie den unterschiedlichen Valeurs keine subjektiven Bewertungsmaßstäbe beigibt. Das Helle in ihren Zeichnungen ist nicht in Analogie zum Guten oder Wahren gesetzt, ebensowenig wird das Dunkel negativ apostrophiert. Vielmehr zeichnet Felber die unendliche Vielfalt aller Zwischentöne auf. Die mannigfaltigen Facetten des Uneindeutigen sind ihr angelegener als »wasserdichte« Konzepte und Positionen. Weder Schwarz noch Weiß existieren für sich alleine, sie besitzen immer Anteile des anderen. Ihr Interesse richtet sich auf die Nuance, auf den kaum spürbaren Hauch. Ein geheimnisvolles, feucht schimmern­des Leben von verhaltener Wärme pulsiert in diesen Zeichnungen, die paradoxer­weise sinnlich und immateriell zugleich sind.

Felber versteht, den Reichtum der Grauzone menschlichen und weltlichen Seins in all seinen zum Hellen oder Dunklen hin tendierenden Zwischentönen behutsam auszuloten. Sie verleiht dem Zarten und Immateriellen Gestalt und beläßt gleich­ zeitig den dunklen Kräftefeldern ihre Macht, nimmt ihnen aber ihre bedrohliche Gewalt. Das Flackernde, flüchtig Irrlichternde gewinnt Substanz, während die hermetische, dichte Materie poetisch aufgelöst wird. Diese Betrachtung von Welt ermög­licht es Gina Lee Felber, Bilder zu schaffen, die höchst konzentriert und spielerisch zugleich, sowohl ernst wie auch gelassen sind – Bilder von großer innerer Schön­heit, die keine fertigen Zustände, sondern offene Beziehungssysteme vorstellen. Sowohl innerhalb der einzelnen Bildelemente wie natürlich auch zwischen Bildern und Betrachtern entsteht ein Diskurs, der sich nicht zugunsten einer finalen Ent­scheidung auflöst. Felber gibt den Blick auf das Transitorische frei, auf den Fluß der Dinge und deren permanente Veränderung. Auf ihre Art stellen diese Bilder Realität dar, insofern sie nicht selbst-referentiell sind, sondern offen und vielgestal­tig Ausschnitte aus Felbers Innenleben wie auch ihre Sicht der Welt wiedergeben.

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